Die Atemtherapie ist eine Möglichkeit der Begleitung für Menschen, die in dem Feld der Psychosomatik erkrankt sind. Ich habe mehrere Jahre in einer Fachklinik für integrierte Psychosomatik und Ganzheitsmedizin als Atemtherapeutin gearbeitet und über zweihundert Menschen mit den Diagnosen Depression, Angst und/oder Borderline intensiv über mehrere Wochen atemtherapeutisch begleitet und behandelt. Aus diesen Schicksalen habe ich vier ausgewählt um die Möglichkeiten der Atemtherapie, teilweise in Kombination mit Elementen aus dem Familienstellen, aufzuzeigen.

Atemtherapie in der Klinik für Psychosomatik - ein Praxisbericht von Christine Meyne

Die Fachklinik für integrierte Psychosomatik und Ganzheitsmedizin, in der ich einige Jahre als Atemtherapeutin arbeitete, ist eine der wenigen Kliniken, die die Atemtherapie voll in das therapeutische Konzept eingebunden hat.
Die Belegungskapazität lag in der Zeit als ich dort war bei 165 Betten für Patienten und weiteren 35 für Begleitpersonen, meistens Kinder, manchmal auch Ehepartner. Die Patienten blieben im Schnitt etwa zehn Wochen stationär. Jeder Patient hatte einen Arzt und einen Psychologen zur Betreuung. D.h. jeder Patient wurde körperärztlich betreut und bekam wöchentlich mindestens eine Einzelstunde Psychotherapie bei seinem Bezugstherapeuten. Je nach Diagnose nahmen die Patienten an mehreren verhaltenstherapeutisch, tiefenpsychologisch oder systemisch ausgerichteten Gesprächsgruppen teil und an den Kreativtherapien, zu denen auch die Atemtherapie gehörte. Daneben gabt es die verschiedensten Angebote wie Krankengymnastik, Physiotherapie, Massage und Sport.

Indikationen für den Aufenthalt in der Klinik sind psychosomatische, depressive und psychoreaktive Erkrankungen, sowie Angsterkrankungen und Pers'nlichkeitsstörungen. Ausserdem werden in der Klinik Patienten mit Schmerzstörungen und Essstörungen behandelt. Weitere Indikationen sind Residualzustände nach Psychosen und Posttraumatische Belastungsstörungen.

Die Atemtherapie zählt zu den Kreativtherapien

wie auch Tanz und Gestaltung. Wir waren zwei Atemtherapeutinnen, zwei Gestaltungstherapeuten und eine Tanztherapeutin. Etwa die Hälfte der Patienten besuchte die Atemtherapie. Meine Kollegin arbeitete halbtags. Sie hatte fünf Gruppen, zwei Erwachsenengruppen und drei Kindergruppen. Ich arbeitete Montag mit Donnerstag ganztags (28 Stunden) und hatte insgesamt acht Gruppen mit im Schnitt etwa acht erwachsenen Patienten. Jede Gruppe kammt zwei mal die Woche für eine Stunde, so dass ich am Tag vier Gruppen hatte. Daneben waren zwei bis vier Stunden pro Woche Zeit für Einzelbehandlungen und täglich eine Stunde für Besprechungen mit Stationsteam oder/und Bezugstherapeuten. In Einzelbehandlung waren die Patienten je nach Dauer des Aufenthaltes vier bis acht mal, in der Gruppe sah ich jeden Patienten bei einem durchschnittlichen Aufenthalt von zehn Wochen etwa achtzehn mal. In dieser Zeit passierte bei manchen Patienten sehr viel.

Die Atemtherapie ist wie die anderen Kreativtherapien in das gesamte Therapiekonzept für jeden einzelnen Patienten mit eingebunden – auch für die Kinder. In der Klinik gab es damals vier Stationen: eine Mutter-Kind-Station, eine für Schmerzpatienten, eine für hauptsä'chlich internistische psychosomatische Erkrankungen und Ess-Störungen wie Bulimie oder Adipositas und eine Privatstation mit 15 Betten. Zwei mal die Woche war ich auf jeder Station bei den Teambesprechungen dabei, stand für Fragen zur Verfügung und berichtetea von den Atemstunden. Im Team gibt es die Möglichkeit zu Gespräch und Austausch mit dem behandelnden Psychotherapeuten, sodass die therapeutischen Interventionen besprochen und abgestimmt werden können. Bevor ein Patient in die Atemstunde kam, bekam ich einen Bericht mündlich und schriftlich, über die Diagnose des Patienten, über seine Therapieziele und über wichtige lebensgeschichtliche Ereignisse. Während des Aufenthalts hatte ich Einblick in die Akten und war im Austausch mit den Bezugs- und den Gruppentherapeuten. So konnte ich in der Atemtherapie zum Beispiel mit bestimmten Angeboten auf bestimmte Problematiken bei Patienten eingehen oder dem Bezugstherapeuten Hinweise auf Gespräche und Themen geben, die in der Atemstunde auftauchten.

Als Atemtherapeutin hatte ich ein Kontingent für Einzelstunden. Hier hatte ich die Möglichkeit, Patienten aus den Gruppen vorzuschlagen oder mit Patienten zu arbeiten, die von den Psychologen vorgeschlagen wurden. “Atemeinzel” gibt es in der Regel für Menschen mit starken Depressionen und/oder Ängsten und Panikattacken, die sie zunächst daran hindern an Gruppen teilzunehmen, für Menschen, die für eine Weile besondere Zuwendung brauchen und für Patienten, die den Zugang zu ihrem Körper noch nicht finden können. So wie Frau N.

Die Atemtherapie ist bei den Patienten in der Regel beliebt. Die meisten sehen sie zunächst als gute Möglichkeit der Entspannung oder des “Abschalten-könnens”. Für einige geht es tiefer und sie erkennen den Atem als Mittler ihrer Gefühle oder sogar als Anker im Sturm. Ich bekomme immer mal wieder Briefe von ehemaligen Patienten, besonders von Angstpatienten, die beschreiben, wie Dehnübungen und der dadurch angeregte und vertiefte Atem sogar in Paniksituationen nachhaltig geholfen und beruhigt hat. Besondere Aha-Erlebnisse löse ich auch immer wieder mit den Angeboten aus, sich zu lassen: dass die Lösung geschieht und nicht gemacht werden muss, dass der Atem geschenkt wird und nicht geholt werden muss. Dieses Erleben öffnet fü'r manche Patienten tatsächlich das Tor zum Sein. Manchen gibt es auch einen neuen Blick auf ihr Tun – und Lassen – und sie beginnen eine Ahnung davon zu bekommen, was es heißt, sich und ihr Leben, auch ihr Schicksal anzunehmen, so wie es ist, nicht wie es sein sollte.

Fallbeispiel: Atemtherapie bei depressiver Trauerreaktion

Herr E. zum Beispiel litt an einer Depression und hatte Angst davor, die Trauer um seine, vor einem halben Jahr, plötzlich verstorbene Frau zu fühlen. Er konnte nicht weinen. Herr E. nahm an 18 Gruppenstunden teil und öffnete sich im Verlauf nach und nach immer mehr seinen schmerzlichen Gefühlen und Empfindungen. In der zweiten Stunde bot ich im Liegen an, den Boden zu spüren, und den Luftraum über uns mit den Händen zu erkunden und zu ertasten. Herr E. nahm diesen Raum als schmales Band wahr, eng und klein. Er sagte: aussen herum sei das Leben, er aber wage nur dieses bisschen Luft zu atmen. Sein Atem sei flach und vorsichtig. Die folgenden drei Stunden ging es um die Wahrnehmung der inneren Atemräume und Herr E. spürte zunächst, wie sein Atem nur den oberen Raum berührte. Er konnte erstmals weinen, was ihn sehr erleichterte. Nach und nach nahm er wahr, wie er den Atem anhält, wenn Gefühle drohen und dass er nur schwer ausatmet und loslässt. Im Verlauf der nächsten Stunden spürte er mehr Raum in sich und parallel dazu auch Trauer, die er jetzt eher annehmen konnte. Er weinte jede Stunde und sagte, nach und nach sei es weiter geworden in ihm und der Raum um ihn herum sei wieder größer. Er spüre seinen Atem jetzt bis in den Bauch und er wisse jetzt auch, warum er so kurzatmig gewesen sei. Er habe Angst vor der Trauer gehabt, die er jetzt fühlen und ausdrücken könne.

Fallbeispiel Atemtherapie bei borderline Persönlichkeitsstörung

Das erste mal als Frau H. ihren Atem im Bauch spürte, ist ihr vor Schreck schlecht geworden, denn sie fühlte gleichzeitig, Wut und Aggression gepaart mit massiven Schuldgefühlen, die sich im Bauch angestaut hatten. Frau H. war als Kind bis zu ihrem fünfzehnten Lebensjahr etwa zehn Jahre lang von ihrem Vater sexuell missbraucht worden. Später, als ihr Vater auch ihre Schwester missbrauchte, hatte sie ihn schließlich angezeigt. Der Vater wurde verurteilt und kam ins Gefängnis. Frau H. war jetzt als Erwachsene am ganzen Körper angespannt und adipös. Sie litt auch sehr unter innerer Anspannung, an Minderwertigkeitsgefühlen, an Unruhe und an dem Gefühl von Kraftlosigkeit. Sie konnte sich zudem kaum abgrenzen. Im Gespräch mit der behandelnden Psychologin kamen wir überein, verhaltenstherapeutisch und atemtherapeutisch mit Frau H. an der Abgrenzungsproblematik zu arbeiten. In der Gruppe bot ich mehrere Stunden immer wieder das Thema Grenzen an: Körpergrenzen durch Abklopfen und Streichen und Kontakt zum Boden und zum umgebenden Raum, Spüren des Eigenen im ganz körperlichen Spüren der Atembewegung. Frau H. verlor ihre negative Erwartungsangst vor der Atemtherapie mit jeder Stunde, in der sie sich abgegrenzt und kompetent in ihrer Lebendigkeit erleben konnte etwas mehr, bis sie schließlich gerne kam und so viel Vertrauen hatte, dass sie sich auch weiter vor wagte in die inneren Räume hinein. Der Zugang zu ihrem Körper und ihren Gefühlen verbesserte sich spürbar. Da Frau H. auch eine borderline Symptomatik mit starken Impulsdurchbrüchen und Gefühlsüberschwemmung zeigte, konnten wir in der Psychotherapie und in der Atemtherapie in gemeinsamer Absprache weiter parallel arbeiten. Es ging um den Umgang mit den Impulsdurchbrüchen: um Ursachenerkennung, Kontrolle und Begrenzung. Atemtherapeutisch arbeitete ich mit Frau H. am eigenen Maß. Die immer wieder aufkommende Wut konnte Frau H. im Laufe der zwölfwöchigen Therapie mehr und mehr bewusst benennen und sie fand zunehmend Wege, die weggeschobenen Gefühle angemessen auszudrücken.