Aus einem Dornröschenschlaf erwacht

Welche Bedeutung Atemtherapie in der letzten Lebensphase haben kann, können Sie hier in der folgenden Fallgeschichte lesen.

Es ist eine Begleitung über sieben Monate bis zum Tod, die mich sehr berührt hat weil in dieser Zeit ein tiefer Heilungs- und Wandlungsprozess stattgefunden hat. Ich bin sehr dankbar, dass ich Frau E. atemtherapeutisch begleiten durfte.

Als ich Frau E. kennen lernte, war sie 87 Jahre alt und wohnte in einem Alten- und Pflegeheim in München. Der Kontakt war über die Tochter zustande gekommen, die sich um ihre Mutter kümmerte. Die Tochter litt darunter, dass die Mutter sie bei Besuchen häufig nicht erkannte. Die Tochter hatte selber Atemtherapie bei sich erfahren und meinte, das könne ihrer Mutter gut tun.

Frau E. hatte sich im Laufe des voran gegangenen Jahres sehr verändert: hatte sich von allen Aktivitäten im Heim zurückgezogen, wollte keinen Kontakt mehr mit den Mitbewohnern, sprach kaum mehr, dämmerte vor sich hin, hatte Erinnerungsprobleme (Tochter) und legte keinen Wert mehr auf ihr Äusseres, was ihr früher sehr wichtig gewesen war.
Sie wirkte insgesamt traurig, resigniert und einsam und so als sehne sie nur noch den Tod herbei. Sie bekam keine dämpfenden Medikamente, hatte auch keine Schmerzen, die diesen Zustand hätten erklären können.

Ich begleitete Frau E. sieben Monate und besuchte sie in dieser Zeit meist 1x pro Woche.

Aus einem Dornröschenschlaf erwacht

Als ich das erste Mal alleine zu Frau E. kam, saß sie im Rollstuhl im Essraum und döste inmitten der Menschen teilnahmslos vor sich hin. Sie erkannte mich nicht und konnte sich auch nicht an das gemeinsame Gespräch mit der Tochter erinnern, bei dem wir die Atembegleitung abgesprochen hatten. Ich erzählte ihr das noch mal und sie stimmte einer Behandlung zögerlich zu. So rollte ich sie in ihr Zimmer und behandelte im Sitzen in der Sicherheit ihres Rollstuhles.

Auffällig war, dass sie eine sehr hohe Körperspannung hatte, die sich wie Abwehr anfühlte. Ihr Atem war klein und versteckt, kaum wahrnehmbar. Auch wollte sie jede Bewegung mitmachen und selber ausführen, konnte sich nicht passiv bewegen lassen und hielt dabei den Atem an. Wenn ich beispielsweise ihren Arm hoch nahm, hielt sie ihn in der Hähe und wartete was ich als nächstes von ihr wolle, welche Gymnastik sie nun machen solle.

Absichtslose Berührungen anzunehmen ist bei Frauen dieser Generation allgemein schwer, das fällt immer wieder auf. Ich wusste wenig über die Biographie von Frau E. auch nicht, welche Lebenserfahrungen sie bisher mit Berührungen gemacht hatte. Ob sie beispielsweise im Krieg auf der Flucht, sie kam aus Dresden, wie ich später erfuhr, vergewaltigt oder als Kind missbraucht worden war. In der kontrollierenden Art, wie sie der Berührung begegnete schwang etwas in diese Richtung mit.

Also hörte ich vorerst mit dem Bewegen auf und ließ meine Hände still auf einer Stelle liegen, sodass Frau E. ihren Atem dort spüren konnte. Wenn ich merkte, dass sie in Kontakt gehen konnte, wanderte ich nach einer Weile weiter mit der Berührung. Vor allem als dich die Hände auf den Knien und später auf den Füßen liegen hatte, konnte sie das gut annehmen und entspannte sich erstmals leicht.
Nach der Behandlung sah sie mich klar an. Auch ihre Zunge hatte sich etwas gelöst und der fest zusammengepresste Mund. Vorher hatte sie kaum gesprochen, jetzt erzählte sie, dass sie öfter von den Blumen träumt, die auf ihrem Fensterbrett stehen. Das waren mehrere Orchideen, die sie schon immer sehr geliebt hatte und von denen jetzt einige farbenfroh blühten, während andere trocken, grau und verdorrt aussahen.
Als ich nach einer Woche wieder kam, war schon eine Veränderung eingetreten: Sie erkannte mich wieder, freute sich auf die Behandlung und ließ sich vertrauensvoller darauf ein unter dem sanften Druck und Kontakt meiner Hände ihren Atem bewusster wahrzunehmen.

Die Woche darauf traf ich sie wieder im Essraum an. Als sie mich an der Tür entdeckte, winkte sie mir schon von Weitem zu und schien stolz zu sein, dass ich sie besuchte. Sie wollte im Essraum bleiben. So behandelte ich dort, bewegte ihre H'nde, Arme, Beine und Füße durch, hielt sie an den Schultern und strich ihren Nacken aus. Alle Anwesenden schauten interessiert und Anteil nehmend zu. Für mich war diese “Gruppentherapie” sehr berührend, weil Frau E. am Ende stolz in die Runde schaute und es still und besinnlich im Essraum geworden war.

Ab da wandelte sich etwas in unserer Beziehung: Frau E. ging mehr in Kontakt: Sie wusste jetzt meinen Namen, freute sich offener und ihr Vertrauen in die Therapie wuchs. Sie zeigte mehr von sich und sprach auch mehr – sogar auch über ihre Traurigkeit und Resignation. Dann lächelte sie still und wirkte sehr zart.
Sie begann auch mit Mitbewohnern wieder Kontakt auf zunehmen und fing an, mich als Gegenüber zu sehen. Sie erinnerte beim nächsten Mal sogar Details der Behandlung vor einer Woche. In Stimmung und Stimme in Ausdruck und Blick wurde sie weicher und liebevoller. Öfter kam jetzt auch Freude auf und wir lachten herzhaft miteinander oder glucksten wie Teenager.

In dieser Zeit, es war nach der neunten Behandlung, wurde ich auch vom Pflegepersonal angesprochen, was ich den mit Frau E. mache. Sie sei so viel wacher und interessierter an allem, beteilige sich wieder am Gespräch beim Essen und gehe auf Mitbewohner zu.
Wenn wir jetzt durch die Gänge des Heimes fuhren oder in den Garten raus, hatte sie immer einen Ellbogen auf der Lehne aufgestützt und winkte jedem freundlich zu, der uns begegnete. Bald waren wir recht bekannt im Haus.

Auch die Tochter bemerkte Veränderungen: Wenn sie zu Besuch kam, erkannte die Mutter ihre Tochter jetzt wieder, war liebevoller und manchmal zärtlich zu ihr, zeigte ihr, dass sie sie mag und berührte sie sogar von sich aus, was sie sonst nie getan hatte.

Dann kam eine Behandlung, die ein Wendepunkt war. An diesem Tag war Frau E. sehr schwach und tief traurig. Sie sprach kaum und hatte sehr müde Augen, sah mich nicht an. Ich behandelte sie im Liegen in ihrem Bett. Ich begleitete mit der Berührung meiner Hände ihren Atemrhythmus, ohne etwas daran zu verändern, nur haltend und bestätigend. Darüber vermittelte ich ihr: “du bist nicht alleine, ich bin da und nehme wahr, was geschieht”. Mit einem anderen Menschen zu atmen oder diesen Rhythmus so wie ein stiller Zeuge zu begleiten, ist oft sehr wohltuend und beruhigend, auch Vertrauen aufbauend. Und vor allem, es ist ein tiefer Kontakt.
Frau E. atmete langsam und eher flach. Sie hatte sehr lange Atempausen aus denen sie immer wieder regelrecht hoch schreckte. Ihr Herzschrittmacher trieb sie voran. Der Tod war ganz nah. Schließlich schlief sie ein. Ich blieb bei ihr sitzen, bis sie wieder wach wurde. Sie wollte im Bett bleiben und nicht zum Essen gehen. Das war alles, was sie an diesem Tag zu mir sagte. Ich ging bedrückt weg, wusste nicht ob ich sie noch einmal sehen werde.

Die Woche drauf wirkte sie wie neu geboren. Sie hatte einen sehr klaren, fast geläuterten Gesichtsausdruck und erstmals auch eine tiefe Ernsthaftigkeit statt der Depression, die verflogen schien. Sie begrüßte mich ruhig und gefasst. Ich hätte das nicht gedacht, aber sie erinnerte sich an die letzte Behandlung und freute sich über mein Kommen.

Ab jetzt wurde sie körperlich, seelisch und geistig lebendiger. Sie strahlte Freude und Präsenz aus, war aufgeschlossen für ihre Umgebung und für sich. Sie setzte sich mit sich auseinander, mit ihrer Situation und erkannte, wo sie war und wie es ihr ging. Sie realisierte auch ihr Alter und führte erstmals ein Gespräch mit mir, bei dem sie mich u.a. fragte, wie es mir ginge.

Sie wirkte, wie aus einem Dornröschenschlaf erwacht.

Sie begann auch, sich mit ihrer Vergangenheit auseinander zu setzen, “das hat man damals alles nicht so gewollt”, sagte sie gefasst und ohne Vorwurf. Und: “ich wollte nie in ein Altersheim, aber ich finde mich damit ab. Meine Tochter kann mich nicht bei sich zuhause pflegen”. Sie sagte auch, dass sie spürt, das sie bald sterben werde.
Das war vier Monate vor ihrem Tod und sie gehörte inzwischen zu den beliebtesten Bewohnern auf der Station. Die Pflegenden sprachen mich wieder darauf an, was ich denn mit Frau E. mache, dass sie so aufblüht.

Wir arbeiteten inzwischen mit der Stimme. Die ja Ausdruck und geleiteter Ausatem ist. Wir sangen und tönten mit großer Freude miteinander und so wurde nach und nach die Aufmerksamkeit stärker auf den Ausatem verlagert. Der Ausatem wurde ihr bewusst und sie entdeckte sogar die Stille danach. Diese kurze Ruhepause, in die der Ausatem mündet, wenn man ganz ausgeatmet hat. Diese Stille nach dem Ausatmen aus der erst nach einer kurzen Weile, der neue Einatem kommt. Viele Menschen, die sich nicht mit dem Atem beschäftigen kennen diese Pause gar nicht, haben sie noch nie bewusst wahrgenommen. Das ist die Stille, in der der Ausatem irgendwann zu seiner Zeit auch einmal bleiben wird. Dann kommt nach der Stille kein neuer Einatem mehr und das Leben geht zu Ende. An diesem Punkt, der Frau E. immer klarer wurde, blieb sie ruhig. Sie konnte das spüren ohne Aufregung oder Angst. Da war keine Panik, keine Hektik, auch kein Ausweichen mehr oder Abtauchen in ein Dahindämmern, sondern eher stille Gewissheit und Einverständnis. Frau E. konnte den Atem geschehen lassen, so wie er eben fließt mit vollem Bewusstsein. Das innere “Ja” war gewachsen – in aller Stille, in aller Ruhe.

Am Tag ihres Sterbens rief mich die Tochter an: “Die Mama stirbt”. Ich konnte es ermöglichen hin zu fahren. Als ich in das Zimmer kam schlug mir Anspannung entgegen. Frau E. lag im Bett und hatte einen schnellen flachen Atemrhythmus. Die Tochter saß am Bett und kämpfte mit ihrer Hilflosigkeit und Angst, was auch auf Frau E. wirkte.
Das Vertrauen zwischen Frau E. und mir war im Laufe der Monate so gewachsen, dass es reichte, dass ich mich ans Bett setzte, meine Hand ruhig und deutlich auf ihren Oberschenkel legte und leise ihren Namen sagte. Ich sagte auch, “Es ist gut, du kannst gehen. Ja. Ich atme mit dir.”
Sofort entspannte sich die Muskulatur, ruhiger Ausatem setzte ein und auch die Tochter konnte ruhig und sicherer werden. Sie fragte mich, was sie jetzt tun könne. Da ich wusste, dass sie gerne singt, sagte ich, sie könne die Hand ihrer Mutter nehmen und ihr etwas vorsingen. Als ich ging, waren beide in einem sehr friedlichen Konkat miteinander und der sanfte Gesang war noch leise auf dem Gang hörbar bis ich so weit weg war, das er verwehte.

Eine Stunde später hatte Frau E. einfach ausgeatmet und es war kein neuer Einatem mehr aus der Atemstille gekommen. Ein sanftes Zittern war durch ihren Körper gegangen und die Tochter hatte noch etwa eine Stunde weiter gesungen, die Hand ihrer toten Mutter haltend.